Der Himmelsdrache - zur Vorbereitung der Qi Gong Übung
„Der Drache verbirgt sich in der Tiefe des Wassers“
Die hier dargestellten Bewegungsübungen werden normalerweise in stehender Position ausgeführt. Das Wichtigste am Nei Gong („Innere Übung“) sind aber die Bewegungen der inneren Vorstellungskraft, d.h. Visualisierung und Imagination. Diese werden durch Körperbewegungen lediglich begleitet. Falls also jemand nicht in der Lage sein sollte zu stehen, so kann unproblematisch auch eine sitzende Position eingenommen werden, und wer nicht sitzen kann, der führt die Übungen in Rückenlage aus.
Die Übenden sollten lockere Kleidung tragen, der oberste Hemdknopf geöffnet, der Gürtel nicht eng geschnallt. Fingerringe oder Ähnliches legt man während der Übung ab, um Beeinflussungen der Zirkulation des Qi auszuschließen. Man sollte außerdem vermeiden, die Übung mit hungrigem oder zu vollem Magen zu beginnen oder sie durch Toilettengänge zu unterbrechen. Die Hände werden vor Beginn gewaschen.
Im Titel dieses Abschnitts werden die Trainings-Faktoren Körper, Geist und Atmung genannt. Mithilfe dieser drei Regulierungssysteme bringt sich der Übende in einen Zustand natürlicher Entspannung. Herz, Gedanken und Körpergestalt – das ganze Wesen zentriert sich und realisiert die stabilste Verfassung seines eigenen Tai-Ji. Das Dao De Jing beschreibt dies als zweifachen Zustand von Handeln und 'Nicht-Handeln':
„Im Wu-Wei erspüren und begreifen wir den Eintritt des Wunderbaren, im You-Wei verfolgen wir, wie dessen Wirkungen in die Sichtbarkeit treten.“
(“故恒无欲也,以观其眇;恒有欲也,以观其所噭”)
Die dreifache Einstimmung dient vor allem dazu, den nachgeburtlichen Zustand von Herz und Körper zu regulieren. Sie bringt den Übenden dichter heran an den Zustand des Wu-Wei, lässt ihn Yin und Yang vollständiger verstehen, das wirkende Wunder und die bewirkten Phänomene erschauen. Durch Wahrnehmung des Qi lernt er Dao kennen.
Wir gehen in Wu-Ji-Stellung (无极式站桩): Die Füße stehen parallel zueinander in Schulterbreite, die Fußspitzen zeigen nach vorne, sind weder nach außen noch körpereinwärts gewinkelt. Die Knie sind leicht angebeugt. Die Hüften werden gelöst und der Lendenbereich richtet sich natürlich auf. Das Kinn wird sanft herangezogen, die Halswirbelsäule richtet sich auf, und der Kopf ist wie aufgehangen. Schulter und Ellenbogen entspannen sich, die Hände platzieren sich locker zu Seiten des Körpers. Der ganze Körper steht nun aufrecht und natürlich. Auch die Augenbrauen lösen alle Anspannung, und auf dem Gesicht zeigt sich ein ungezwungenes Lächeln. Körper und Geist sind vollständig entspannt. „Wu-Ji-Stellung“ lässt sich mit “Haltung der Ungetrenntheit” übersetzen.
Nach Einnahme der richtigen Körperhaltung regulieren wir unseren Geist. Das Herz wird friedlich, wir lassen die Gedanken los. Dann benutzen wir unsere innere Vorstellungskraft und entspannen von innen nach außen und von oben nach unten die inneren Organe, Muskeln, Knochen, Nervenbahnen und Haut. Körper und Geist kommen in einen natürlichen Zustand der Stille hinein. Der Atem geht langsam, gleichmäßig und tief.
Wir heben die linke Hand: Die Daumenspitze drückt auf die Ringfingerwurzel an der Stelle, wo zwischen Finger und Handfläche eine Linie zu sehen ist. Die anderen vier Finger formen eine lockere Faust und bilden so die Shui-Lei-Handhaltung (“Wasser-Donner-Mudra”, 水雷手诀). Unter Beibehaltung dieser Handposition legen wir den Handrücken auf den Punkt Ming-Men (命门), das „Tor des Lebens“, im Lendenbereich.
Weiter: Wir heben die rechte Hand. Kleiner Finger und Ringfinger sind angebeugt und das erste Daumenglied drückt auf die Nägel an den Fingerspitzen der zwei angebeugten Finger. Zeigefinger und Mittelfinger sind gestreckt. Dies ist die sogenannte “Schwerthand”. Wir vervollständigen diese und legen das letzte Glied des Mittelfingers über das letzte Glied des Zeigefingers. So formt man die geeignete Handhaltung zur Zeichnung von visualisierten Symbolen.
Langsam heben wir nun die rechte Schwerthand nach rechts oben vor uns in die Luft. Vor der rechten Körperhälfte beginnen wir, mit dem “Schwert-Qi” der Fingerspitzen das Tai-Ji-Symbol flächig vor uns in die Luft zu zeichnen. Dabei beachte man die Reihenfolge 'oben – links – unten – rechts': zuerst einen vollständigen Kreis gegen den Uhrzeigersinn, dann ohne anzuhalten die S-Linie, und im dritten Schritt schließen wir die visualisierte Zeichnung mit dem Einsetzen von Yin- und Yang-Augen ab.
Nach Fertigstellung der virtuellen Zeichnung entspannen wir die Hände – und umfassen dann mit beiden Händen das unsichtbare Tai-Ji-Symbol in der Luft. Wir bringen es langsam vor unseren Brust- und Bauch-bereich, etwa als ob wir einen Basketball halten würden. Die Hände berühren sanft seine Umrandung. Die Zentren der Handinnenflächen zeigen aufeinander, um das Qi zwischen den Händen zu nutzen. Qi strömt in das leere Tai-Ji-Symbol ein. Wir formen haptisch den Umriss zu einem dreidimensionalen Tai-Ji-Körper. Wir erspüren mit unserem Herzen dessen Anwesenheit und Kontur. Sobald beide Hände das deutlich fühlen können, ist die Formwerdung des Tai-Ji-Balls abgeschlossen.
Einige können die Entstehung des Balls mit ihrem Dritten Auge, dem „Himmelsauge“ (Tian Mu, 天目), verfolgen. Normalerweise sieht man dann zunächst das bekannte schwarz und weiß ausgefüllte Tai-Ji-Symbol. Wenige, oftmals Kinder, machen recht schnell einen bunten Tai-Ji-Ball aus.
Beide Hände halten nun den Tai-Ji-Ball. Wir heben ihn über den Kopf und legen ihn auf dem Punkt Bai-Hui (百会), dem „Himmelstor“ des Scheitels, ab. Wir visualisieren, wie sich das Himmelstor öffnet. Der Ball dringt ins Großhirn ein und wandert von dort durch den Zentralkanal nach unten. Er passiert Hals, Brustkorb, Oberbauch und gelangt schließlich bis ins hinter dem Bauchnabel gelegene Untere Dan-Tian.
Die Vereinigung von Körper und Tai-Ji-Ball wird inniger. Nun lassen wir den Lenden- und Bauchbereich langsam gegen den Uhrzeigersinn kreisen. Der durch Zeichnung und Formung eigenhändig erschaffene Ball wird währenddessen beobachtet. Der Übende visualisiert eine ebenfalls gegen den Uhrzeigersinn rotierende Bewegung der Tai-Ji-Kugel im Unteren Dan-Tian. Diese zieht dann wieder aufwärts, um schließlich in die Mitte des Himmels zurückzukehren: Wir heben beide Hände vom Bauch her langsam empor. Wir sehen, wie sich der Tai-Ji-Ball im Unteren Dan-Tian bewegt, wie er daraufhin entlang des Zentralkanals langsam aufsteigt, den Oberbauch passiert, den Brustkorb erreicht. Weiter steigt er hoch, den Hals hinauf bis in den Kopf. Durch das Himmelstor austretend lässt er die Grenzen des Körpers hinter sich.
Wir strecken die Hände zu beiden Seiten des Kopfes aufwärts und visualisieren, wie der Ball mit hoher Geschwindigkeit bis in das Dao-Energiefeld im Zentrum des Universums aufsteigt. Dort schwebt er inmitten des Dao-Lichts und im Meer des De. Umflutet von kosmischem Licht dreht er sich langsam und absorbiert Energie aus dem Ursprung.
Wir lassen beide Hände sinken. Vor der Brust nehmen wir sie mit aufeinander liegenden Handflächen in Gebetshaltung. Voller Demut und Dankbarkeit richtet der Übende die Bitte an das große Dao, seinem Tai-Ji-Ball Energie zu übertragen, um mit seiner Hilfe Herz, Geist und Körper zu speisen und die Qualität seiner Gesundheit zu steigern. Er nimmt sich vor,
Natur, Land und Menschen dienstbar zu sein, nach den Gesetzen der Natur zu leben, seinen Egoismus zu befrieden, Dao zu ehren und De wertzuschätzen.
Beide Hände hängen nun locker und natürlich seitlich am Körper – die Handflächen zeigen zum Körper hin, die Achseln sind leicht geöffnet. Wir stehen weiterhin in Wu-Ji-Stellung. Wir stellen uns vor, wie aus dem Bai-Hui heraus sich das Wai-Dan-Mai (外丹脉), die Verlängerung der körpereigenen Energiebahnen, zur Mitte des Himmels hin öffnet.
Seine Fähigkeit zur Imagination verbindet den Übenden im Scheitelpunkt Bai-Hui mit dem Licht des Dao, der Energie des De und dem zuvor nach oben entsendeten Tai-Ji-Ball. Aus der Himmelsmitte senkt sich spiralförmig Energie und Licht herab und zieht durch das Himmelstor in den Körper des Menschen ein.
Gleichzeitig wird visualisiert, wie sich das Wai-Dan-Mai aus dem Hui-Yin-Punkt (会阴) – dem „Tor der Erde“ – bis ins Zentrum des Planeten hinein öffnet. Erd-Qi steigt spiralförmig aus dem Mittelpunkt der Erde auf und dringt in den Körper des Übenden ein.
Im Herzen betrachten wir, wie sich unser Tai-Ji-Ball im Lichtmeer weiter langsam dreht. Die Mitte des Himmels, der Mensch und der Erdkern verbinden sich in einer Säule aus Energie, die gebildet wird aus dem Dao-Licht und der Strahlung des De. Sie durchdringt von oben den Körper und strömt weiter hinab bis in den Kern der Erde. Dabei füllt und umhüllt sie den Menschen von innen und außen: Der Mensch steht im Licht, das Licht durchdringt den Menschen.
Quelle: Chunjin Xiong, Der Himmelsdrache - Innere Übungen des Taiji, Zweiter Teil, Einführung in die Praxis des Nei Gong, Zur Vorbereitung, "Der Drache verbirgt sich in der Tiefe des Wassers", Seite 68 - 75.